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Zeitzeugen hautnah

25.01.2024

„Emotional“ und „traurig“ waren wohl die häufigsten Worte, mit denen die Schülerinnen und Schüler der 6. Klasse ihre Eindrücke der Begegnung mit dem Menschen, Maler, Erzähler und vor allem dem Zeitzeugen Werner Nagler aus Dolgelin beschrieben. Initiiert hatte dieses Treffen Christina Helbig aus Dolgelin, die gemeinsam mit Beate Ritter an der Entstehung und Veröffentlichung des Werksverzeichnisses mit den Bildern Werner Naglers, gefördert durch Lottomittel vom Landesamt für Soziales und Versorgung, arbeitete. Doch dieses Werksverzeichnis sollte nur der Aufhänger einer Zusammenkunft mit dem eigentlichen Künstler sein. Nachdem uns Frau Ritter eine Einführung dazu gab, was ein Werksverzeichnis eigentlich ist und dies den Schülern anhand des Verzeichnisses von Herrn Nagler verdeutlichte, durften diese selbst darin umherblättern und die Bilder näher kennenlernen. Herr Nagler berichtete uns in diesem Zusammenhang davon, dass seine Bilder erst ab 1995 entstanden, als er Zeit dafür hatte und bereits Rentner war.

 

Den Schülern wurde hier bewusst, dass Herr Nagler ein unglaublich gutes fotografisches Gedächtnis haben musste, um Bilder mit dieser Intensität und Detailgenauigkeit erst nach vielen Jahren zeichnen zu können. Im gemeinsamen Gespräch auch mit Matthias Nagler, seinem Sohn, erfuhren die Schüler, dass nicht nur der Ort Dolgelin im Fokus seiner Werke stand. Auch die Personen auf den Bildern sind Menschen seiner Vergangenheit, seines Heimatortes, seines Lebens. Er könne sie, so sagte Werner Nagler, namentlich jederzeit noch benennen. Ein Bild wurde hier besonders in den Fokus gestellt. Es zeigt die Ansicht rund um die Ortskirche im Winter. Alle Dolgeliner wissen, von welchem Bild hier die Rede ist. Auch den Schülern kam es irgendwie bekannt vor. Es ist genau jenes Bild, das jährlich als Motiv für den Weihnachtsmarkt in und um die Dolgeliner Kirche verwendet wird „Dolgeliner Ortsmitte im Winter 1940“ so der Titel. Von ihm berichtete uns Herr Nagler, dass es schon viele Interessenten gab, die dieses Bild von ihm erwerben wollten. Doch eine Trennung davon ist für den Künstler unmöglich.

 

Nach dieser kurzen Einführung wechselten wir den Raum, in dem sechs weitere seiner Bilder ausgestellt waren, von denen vier die Ereignisse des Krieges darstellten. Hier betrachteten wir Bilder mit gleichen Motiven, die Dolgelin vor 1945 und nach den Kriegshandlungen zeigten. Der Raum war beim Eintritt verdunkelt und sollte die Schüler damit in genau jene Zeit versetzen, die Anlass der Entstehung dieser Bilder war. Auch damals waren die Fenster der Häuser verdunkelt. Kein Licht sollte nach außen dringen und damit Schutz vor Angriffen aus der Luft wahren. Die Geschichte des Ortes zu dieser Zeit ist Teil der Geschichte Werner Naglers und seiner Familie als Einwohner Dolgelins und als Kind. Er malte sie, um Erinnerung und Zeugnis zu hinterlassen, das Erlebte zu verarbeiten, das Geschehene, die Grausamkeit, aber auch den Egoismus und den Schmerz der Menschen im damaligen Dolgelin aufzuzeigen. Matthias Nagler gab den Schülern eine geschichtliche Einordnung dazu.

 

Doch Werner Nagler möchte noch mehr als die Bilder seines Heimatortes hinterlassen. Er schreibt schon seit einiger Zeit alles Erlebte gemeinsam mit seiner Familie für all diejenigen auf, die mehr über ihre Dolgeliner Angehörigen und das Leben in Dolgelin wissen möchten und natürlich für uns, die langsam auf die Suche nach „echten“ Zeitzeugen gehen müssen, um Geschichte zu verstehen. Immer wieder lässt Werner Nagler dabei seine Erlebnisse, Gedanken und Gefühle mit einfließen. So auch in der Erzählung, in der er die Ausweisung seiner Familie aus dem Ort und die anschließende Heimkehr schildert. Von dieser Heimkehr liest Susan Nagler den Schülern und Schülerinnen vor, die beeindruckt, erschüttert und gefangen ihren Worten lauschen. Lautloses Schweigen und Stille herrschen im Gemeindehaus. Anschließend betrachten wir das Bild dieser Reise „Flucht aus Halbe“ und stellen im Gespräch fest, dass Lenas Uroma ebenfalls als Kind mit dabei war und damit auf dem Bild verewigt ist. Das schönste Gefühl und eine Riesenfreude, so beschreibt es Werner Nagler, erfüllte ihn und all die anderen 20 Bewohner Dolgelins als sie bei ihrer Ankunft in Lietzen, müde, kraftlos und geschafft von der beschwerlichen Reise, schon von weitem den Kirchturm sahen. Auf die Nachfrage, welche Bedeutung der Kirchturm für ihn habe und warum er auf allen Bildern sichtbar ist, antwortete Herr Nagler, er sei für ihn nicht nur der Mittelpunkt des Ortes, sondern Heimat. Von seinem Fenster aus konnte er ihn täglich sehen, orientierte sich an ihm auch außerhalb Dolgelins und besitzt Symbolcharakter.

 

Lange noch hätten wir den Erzählungen und Geschichten lauschen können, doch wir machten uns auf an den Ort eines Bildes, welches die Flakstellungen am Dolgeliner Weg Richtung Alt Mahlisch zeigt. Hier konnten die Schüler und Schülerinnen die heutigen Gegebenheiten mit den damaligen vergleichen. Von Herrn Nagler erfuhren sie, wie er als Kind gemeinsam mit anderen Jungen diese heimlich aufsuchte. Die Neugier war damals größer als die Angst. Aber auch nachdem sie einen Flugzeugangriff hautnah miterlebten und nur durch das Flüchten in einen Graben diesen Angriff überlebten, waren sie fasziniert und fanden einen Ort, an dem sie die Angriffe auch weiterhin weiterverfolgen konnten. Die Gräben sind noch immer vorhanden und die Schüler und Schülerinnen suchten sie auf, um genau wie Werner Nagler in diesem Alter, den Reiz zu suchen - zum Glück ohne Krieg.

 

Emotional und traurig - jedoch umso wichtiger sind die Erinnerungen, Berichte und Geschichten dieser Zeit. Lange wird es sie nicht mehr geben, die Zeitzeugen, die uns fesseln und uns mahnen. Wir danken Frau Christina Helbig für die Organisation. Besonders danken möchten wir aber Werner Nagler, der uns mit seinen Bildern und Erlebnissen einen Teil der Geschichte näherbrachte, Matthias und Susan Nagler, die den Schülern halfen, zu verstehen. 

 

Bild zur Meldung: Zeitzeugen hautnah